Das Schlussstrich-Urteil: Ungefähr 230 Straftaten mit Haftstrafe erledigt

Aus der Untersuchungs- in die Strafhaft: Y., der mutmaßliche Unruhestifter aus RW-Altstadt

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Heute, Donnerstag, hat die Justiz in einer recht seltenen Übereinkunft mit einem Angeklagten einen Schlussstrich gezogen unter eine ganze Menge an Strafverfahren wegen Bedrohung, Beleidigung, Missbrauch von Notrufen, Verleumdung, Widerstands gegen und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Nachstellung, Störung der Totenruhe, Vortäuschens einer Straftat, falscher Verdächtigung und anderem: Die 11. Kleine Strafkammer sprach ihr Urteil über den 52-jährigen Y. aus RW-Altstadt. Er muss noch wenigstens einige Monate in Haft.

Es lief alles nach Plan. Zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten wurde der Altstädter, der mutmaßliche Unruhestifter und Nachbarschaftsterrorist, am Nachmittag verurteilt. Mutmaßlich deshalb, weil das Urteil bisher nicht rechtskräftig ist, ihm noch sieben Tage lang die Möglichkeit der Revision bleibt. Dass er diese einlegt, gilt aber als vollkommen unwahrscheinlich.

Die Kammer bewegte sich mit ihrem Urteil genau in dem Korridor, der ihr geblieben war, nachdem sich Staatsanwaltschaft und (Pflicht-)Verteidigung in einem juristisch recht komplizierten Prozedere verständigt hatten. Der Verteidiger plädierte noch darauf, an die Untergrenze zu gehen – zwei Jahre und zwei Monate Haft. Der Ankläger wollte die Strafe ausgeschöpft wissen – zwei Jahre und elf Monate.

Wegen Verfahrensverschleppung gelten zwei Monate davon bereits als vollstreckt. So hatten erste Berufungsverfahren lange gedauert – während dieses rasch vonstattenging, weil sich Y. seit September bereits in Untersuchungshaft befand. Frühestmöglich, zum sogenannten Halbstrafenzeitpunkt, könnte er bereits in neun Monaten frei kommen. Das ließ Zuhörer im Gerichtssaal vernehmlich stöhnen. Aber Y. hatte dem Gericht versprochen: „Sie werden mich hier nicht mehr wieder sehen.“ Der Richter kündigte ihm auch an: „Wenn Sie wieder was machen, werden Sie relativ schnell abgeurteilt. Wenn Sie wieder straffällig werden, müssen Sie damit rechnen, dass Sie wieder ins Gefängnis müssen.“ Es sei wichtig, dass er an sich arbeite, dass er Hilfe annehme.

Danach sieht es neuerdings aus. Der 52-Jährige, der früher noch gegen alle und jeden schoss, wirkte zuletzt einsichtig. Bezwungen, zwar, aber anscheinen auch erleichtert darüber, dass sein Kampf jetzt ein Ende hat. Dass er noch seine Strafe ableisten muss und dass er dann in die Zukunft wird blicken können. Er gab sich Prozessteilnehmern gegenüber ehrlich freundlich. Die mit dem Mann befassten Justizwachtmeister vernahmen’s grinsend.

Unser Vorbericht zu diesem Urteil, erschienen am Donnerstagmorgen

„Ist dann alles erledigt?“ Das wollte Y. am vergangenen Dienstag, vor zwei Tagen, vom Strafkammer-Vorsitzenden wissen. Der 52-Jährige unterstrich das mit einer energischen Basta-Bewegung beider Arme. Mit „alles“ wird er die vielen Strafverfahren gegen ihn gemeint haben, die zig Taten abarbeiten sollten und die die Justiz immer wieder miteinander verbunden, gebündelt hat. Mit „erledigt“ zielte er auf ein Urteil ab, das auf Betreiben der Staatsanwaltschaft hin zwischen der Anklage und der Verteidigung vereinbart wurde und mit heutigem Urteil und sogleich rechtskräftig werden könnte. Dieses Urteil soll drei Berufungsverfahren gegen Hafturteile des Rottweiler Amtsgerichts bündeln, die wiederum zig Verfahren bereits gebündelt haben. Da war zunächst eine fünfmonatige Haftstrafe, noch zur Bewährung ausgesetzt. Dann schon ein Jahr und zwei Monate, ausgesprochen vom Amtsgericht 2023. Und schließlich ein Jahr und zehn Monate Haft, wiederum ausgesprochen vom Amtsgericht im vergangenen September. Weil Y. wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr damals in Untersuchungshaft kam, beeilte sich die Justiz mit diesem Berufungsverfahren besonders, eröffnete die Hauptverhandlung dazu bereits am 21. Januar. Insgesamt also geht es für ihn um drei Jahre und fünf Monate Haft. Zu denen ist er rechnerisch insgesamt verdonnert worden. Seine Verteidigung war auf Freispruch angelegt.

Ein Deal ist immer ein Kompromiss, so auch diese Verständigung zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung, zwischen Ankläger und Angeklagtem. Man einigte sich vorab auf eine Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten Haft und eine Maximalstrafe von zwei Jahren und elf Monaten. Einen Korridor, innerhalb dessen sich die Kammer bewegen könne, nannte dies deren Vorsitzender Richter.

Damit sollte alles erledigt werden. Basta. Wirklich alles? Nunja, nicht ganz. Kommende Woche wird Y. sich in einem weiteren Verfahren vor dem Amtsgericht Rottweil, Abteilung für Strafsachen, verantworten müssen. Hier geht es um ein Bußgeldverfahren wegen Verstoßes gegen das Kreislaufwirtschaftsgesetz. Hier wird dem 52-Jährigen vorgeworfen, Papiermüll angezündet zu haben. Die Papiertonne litt dabei nicht, weshalb es keine Sachbeschädigung gewesen sein soll und nicht in die oben genannten Verfahren aufgenommen wurde. Es ist eine Bußgeldsache, das läuft gesondert. So ist die Justiz im Rechtsstaat, sie folgt möglichst klaren Regeln.

Darüber hinaus: Ja, mit diesem Urteil ist „alles erledigt“. Wie die NRWZ von Anklage wie Verteidigung erfuhr, sind keine Verfahren mehr gegen Y. anhängig. Die Staatsanwalt hat sie eingestellt, teilweise hat dies auch das zuständige Gericht getan. Y. kann also ein neues Leben beginnen, wenn er aus dem Gefängnis kommt.

Apropos Rechtsstaat: Warum diese Y., der ja zweifellos krank sei (und sich selbst auch als solches bezeichnet), nicht einfach mal in die Psychiatrie einweist. Das ist eine immer wieder auftauchende Frage – Juristen quittieren sie mit einem bedauernden Lächeln. Hier gilt Y. zwar zweifellos als krank, ihm wird eine schwere Persönlichkeitsstörung attestiert. Aber, und jetzt kommt’s: Der Mann müsste schon schuldunfähig oder erheblich in seiner Schuldfähigkeit eingeschränkt sein, durch seine Erkrankung nicht in der Lage, die Falschheit seines Tuns einzusehen. Und: Das Gesetz verlangt, dass „erheblich rechtswidrige Taten“ zu erwarten seien, „durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.“

Sind brennender Müll und eine abgefackelte Tonne ein schwerer wirtschaftlicher Schaden im Sinne des Gesetzes? Schädigen Beleidigungen die Opfer erheblich? 2016 hat der Gesetzgeber wegen der steigenden Zahl an Unterbringungen hier schon den zuständigen Paragrafen 63 konkretisiert. Ihm geht es seither um gravierende Fälle, der Gesetzgeber will die psychiatrischen Kliniken entlasten. Natürlich ist Y. ein gravierender Fall – aber eben aus Sicht seines Umfelds. Juristisch ist er das nicht.

Also geht es für ihn in die Gefängniszelle. In einer solchen, in der Justizvollzugsanstalt Villingen, sitzt Y. schon seit ziemlich genau fünf Monaten. Diese Zeit der Untersuchungshaft wird ihm angerechnet. So bleiben also mindestens ein Jahr und neun Monate und maximal zwei Jahre und sechs Monate Haft, zu denen er am heutigen Donnerstagmittag aller Wahrscheinlichkeit nach verurteilt werden wird. Die Unter- und die Obergrenze, die Staatsanwalt und Verteidigung vereinbart haben, der der Angeklagte zugestimmt hat und die der Strafkammer als der Korridor dienen, der ihr bei der Strafzumessung bleibt.

Ziel des Deals: auch die Justiz will einen Schlussstrich unter die bis vor ein paar Tagen drei abhängigen Berufungsverfahren setzen, die dank der Vereinbarung schon rechtswirksam zu einem verkürzt werden konnten. Mit allem, was war, könnte also heute Schluss sein (außer der Bußgeldsache, siehe oben. Alles weiter wurde eingestellt).

Und was ist, wenn er dann in einigen Monaten freikommt? Ist es dann vorbei mit der Ruhe, die seit seiner Inhaftierung in der Rottweiler Altstadt rund um seinen Wohnort, die Vogelsangstraße, herrscht? Das weiß heute niemand. Allerdings scheint bereits die bisherige Haft bei Y. das zu bewirken, was auch Ziel einer Strafhaft ist: eine Besserung. So erschien der Mann am ersten Tag des Berufungsprozesses und nach viereinhalb Monaten im Gefängnis zwar schon deutlich gealtert, aber immer noch bockig und kampflustig.

Nun, nach vier Verhandlungstagen und weiteren drei Wochen Haft, wirkt er erstmals einsichtig und willig, die Strafe anzunehmen, die die Justiz für ihn vorsieht. In der JVA wirken besondere Kräfte, so scheint es, die auf eine Besserung hinarbeiten. Und dem Mann wird klar geworden sein, was auch die Botschaft dieser jüngsten Prozesse gegen Y. vor dem Amts- und Landgericht an die Allgemeinheit ist: Das Recht setzt sich durch und wird dies auch in Zukunft tun. 

Das ist übrigens eine Kernbotschaft dieses Prozesses, die draußen, in und um Rottweil, wahrgenommen wird: dass die Justiz zwar vielleicht lange braucht, um in die Gänge zu kommen, dass sie dann aber wehrhaft ist. Einen „Lichtblick“ nannte etwa ein Leser der NRWZ das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, des Staatsanwalts, in seiner Arbeit gegen den Angeklagten. Auf Antrag des jungen Anklägers war Y. schon im September 2024 in Untersuchungshaft gekommen – ein erster schwerer Dämpfer, den er ihm, der über dem Gesetz zu stehen glaubte, zugefügt hat. Und eine Maßnahme, die für sofortige Ruhe in der Altstadt und für Polizeibeamte und Feuerwehrleute sorgte, die sich fortan nicht mehr mit dem mutmaßlichen Unruhestifter auseinandersetzen mussten.

Das recht rasche Ende aller drei Berufungsverfahren geht ebenfalls auf das Betreiben dieses Staatsanwalts zurück. Und dass er sich so unerbittlich zeigte, und Y. wenigstens rund zwei Jahre in Haft sehen möchte. Im Prozessverlauf zeigte der Ankläger engagiert Wege auf, wie die Justiz durch Verfahrensverbindungen, Rechtsmittelbeschränkungen und Einzelbeschlüsse regelgerecht und gesetzeskonform zu eben jenem Schlussstrich-Urteil gelangen konnte, das nun ansteht.

Wobei die Prozessführung des Vorsitzenden Richters am Landgericht ihres dazu beitrug: Einen anfangs unwilligen Angeklagten, der sich zudem nicht im Klaren darüber schien, was in dem von ihm selbst angestrengten Berufungsverfahren erwartet wird, knackte der Richter geschickt. Y. hat am Ende, sollte es heute Mittag zu dem erwarteten Urteil kommen, mitgearbeitet. Er war Teil einer Verhandlung unter Erwachsenen, hat für sich zwar das bestmögliche Ergebnis herausgeholt, dies aber innerhalb der von der Justiz klar gezogenen Grenzen. Er hat einsehen müssen, dass selbst er nicht über dem Gesetz steht. Vielleicht ein wichtiger Schritt, der ihn in Zukunft an weiteren Taten hindert.

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Peter Arnegger (gg)

… ist seit gut 25 Jahren Journalist. Seine Anfänge hatte er bei der Redaktion der “Schwäbischen Zeitung” in Rottweil, beim Schwäbischen Verlag in Leutkirch volontierte er. Nach einem Engagement bei der zu diesem Verlag gehörenden Aalener Volkszeitung wechselte Arnegger zur PC Welt nach München, einem auf Computer-Hard- und -Software spezialisierten Magazin. Es folgten Tätigkeiten in PR und Webentwicklung. 2004, wieder in seiner Heimat angekommen, half Arnegger mit, die NRWZ aus der Taufe zu heben. Zunächst war er deren Chefredakteur, und ist zwischenzeitlich Geschäftsführer der NRWZ Verwaltungs GmbH – und als solcher der verantwortliche Journalist der NRWZ. Peter Arnegger ist 1968 in Oberndorf / Neckar geboren worden.

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